Ukraine-Krise verschärft sich anscheinend – Einige Anmerkungen

Ich bin Bundeskanzler Olaf Scholz sehr dankbar für seine Reise nach Moskau. Im Gespräch mit Präsident Putin hatte es einige hoffnungsvolle Ansätze gegeben und man war übereingekommen, der Diplomatie noch eine Chance zu geben. Jetzt aber mehren sich wieder Anzeichen für einen möglichen russischen Angriff auf die Ukraine.

Über die grundsätzlichen Fragen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird vor allem auf der Ebene des Kanzleramts und des Auswärtigen Amtes entschieden. Ich kann mich nicht sinnvoll zu allen Aspekten der gegenwärtigen Lage äußern. Ich mache aber – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aus meiner persönlichen Sicht vier Anmerkungen.

1. Wir müssen wieder lernen, Bedrohungswahrnehmungen der anderen Seite aufzunehmen, auch wenn wir sie nicht teilen. Die NATO ist ein Defensivbündnis und ein Angriff von NATO-Territorium auf Russland ist undenkbar. Dessen ungeachtet würde sich die NATO durch den von der Ukraine angestrebten Beitritt zum Bündnis (der derzeit allerdings nicht zur Debatte steht, weil die Ukraine die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt) sehr nahe an die russischen Bevölkerungszentren heranschieben. Insbesondere für eine russische Regierung, die eher in den Kategorien von Großmächten des 19. Jahrhunderts denkt, muss das wie eine Bedrohung wirken.

2. Russland hat legitime Sicherheitsinteressen, die aber nach allgemeiner Einschätzung nicht auf Kosten anderer Staaten gehen dürfen. In den letzten Wochen wurde oft argumentiert, dass man der Ukraine einen NATO-Beitritt langfristig nicht verweigern könne, da jedes Land über seine Bündniszugehörigkeit selbst entscheide. Wahr ist daran, dass jedes Land das moralische Recht hat, den Beitritt zu einem Bündnis zu beantragen. Aber – abgesehen davon, dass ein Bündnis nicht jeden Antragsteller aufnehmen muss – lautet die entscheidende Erkenntnis der vergangenen Wochen doch: Russland ist faktisch durchaus stark genug, einen NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern. Gerade diejenigen Politikerinnen und Politiker, die öffentlich immer wieder betonen, wie sehr ihnen die Ukraine am Herzen liege, sollten aus dieser Erkenntnis die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.

3. Es verdichtet sich bei mir die Vermutung, dass es Putin nicht allein darum geht, einen NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern und das Land zu einer russlandfreundlicheren politischen Ausrichtung zu nötigen. Die Ukraine wurde bereits unter Katharina der Großen für das russische Reich gesichert. Es muss ja aus russischer Sicht – wenn nicht ungerecht – dann doch zumindest willkürlich erscheinen, dass Gebiete, die vom Zarenreich unter großen Entbehrungen erobert worden sind, nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig waren, weil sie in der Sowjetzeit eigenständige Unionsrepubliken waren.

Meine Großeltern sind aus Ostpreußen geflohen. Ich kann den Phantomschmerz eines zerfallenen Reiches gut verstehen, zumal sich die Sowjetunion nicht wie das Deutsche Reich des Verbrechens eines rassistisch motivierten Angriffskrieges schuldig gemacht hat. Dennoch: Ein russischer Angriff auf ukrainisches Gebiet wäre ein in der Summe unprovozierter Angriff auf einen souveränen Staat. Ein solcher Angriff würde eindeutig und massiv gegen das Völkerrecht verständigen und wäre durch keinen Entschuldigungstatbestand gerechtfertigt.

Ob Russland es dulden muss, dass die Ukraine Mitglied der NATO wird, lasse ich an dieser Stelle offen. Selbst wenn man aber annimmt, dass die russische Regierung in dieser Frage im Recht ist, wäre Russland verpflichtet, erst alle nicht-militärischen Mittel, also beispielsweise wirtschaftliche und diplomatische, für dieses Ziel einzusetzen. Davon sind sie weit entfernt. Ein Angriff gegen die Ukraine wäre also nicht gerechtfertigt – unabhängig davon, welches politische Ziel Putin verfolgt.

4. Ich halte das Ziel der SPD, langfristig wieder mehr im Sinne eines Systems kollektiver Sicherheit wie der OSZE zu denken, für richtig, und ich hoffe, dass noch genügend Zeit für die Diplomatie bleibt.