Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Jenseits der Tagespolitik gedenken wir heute den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Der heutige Tag ist in Deutschland seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag. Er ist als Jahrestag bezogen auf den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetische Rote Armee.

Der vom Deutschen Reich und vom Japanischen Kaiserreich entfesselte Zweite Weltkrieg forderte insgesamt über 50 Millionen Menschenleben. Nahezu alle am Krieg beteiligten Nationen hatten viele Tote zu beklagen. Heute werden die ermordeten Jüdinnen und Juden oftmals symbolhaft für die Opfer der rassistischen Gewaltherrschaft der Nazis genannt, was ich gut nachvollziehen kann.

Denn die europäischen Juden waren keine Kriegspartei. Sie haben nichts gegen den deutschen Staat getan. Viele deutsche Juden waren sogar begeisterte deutsche Patrioten. Der Vater von Anne Frank diente von 1915 bis 1918 an der Westfront und war Träger des Eisernen Kreuzes! Dennoch wurden die deutschen und europäischen Juden ausgegrenzt, vertrieben, deportiert und schließlich ermordet. Dies war ebenfalls das Schicksal weiterer ebenfalls schuldloser Gruppen, darunter vieler Sinti und Roma.

Heute gedenken wir im Bundestag der Toten und ermahnen uns, dass vergleichbare Dinge nie wieder geschehen dürfen. Das wird oft wiederholt, ist aber alles andere als eine Floskel. Damit sich der Holocaust in einem hochzivilisierten Land wie Deutschland und dessen Einflussbereich ereignen konnte, war eine Kombination vieler Faktoren nötig. Hass, Hetze und Vernichtungswille wurden zur politischen Ausrichtung des Staates. Hinzu kam ein autoritätsgläubiger Beamtenstaat und Militärapparat, der – trotz einzelner bewundernswerter Fälle von gewissensgeleitetem Widerstand – größtenteils wissentlich und oftmals auch willentlich Teil der Vernichtungsmaschinerie war. Das darf sich niemals wiederholen.

Oft frage ich mich, ob eine vergleichbare Diktatur auf deutschem Boden erneut möglich wäre. Ich persönlich glaube das nicht. Zum einen stehen die Führungsebene und mit ganz wenigen Ausnahmen auch alle Mitglieder des öffentlichen Dienstes und alle Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr klar auf dem Boden des Grundgesetzes. Zum anderen sind die Menschen in Deutschland heute – bei einem grundsätzlich immer noch hohen Vertrauen in den Staat – viel kritischer gegenüber Autoritäten als vorher.

Somit bin ich optimistisch für die Zukunft der deutschen Demokratie und jeder Vergleich der heutigen Situation mit dem Dritten Reich verbietet sich. Weder ist jeder, der sich gegen die Corona-Maßnahmen ausspricht, ein gefährlicher Rechtsradikaler, noch sind wir auf dem Weg in eine staatlich verordnete Corona-Diktatur.

Politischer Streit ist in nicht Schlechtes, er gehört im Gegenteil zu einer Demokratie dazu. Er muss aber mit Respekt vor der Meinung des Gegenübers geführt werden. Unsere Demokratie ist stark genug, einen respektvollen Meinungsstreit auch über moralisch und emotional hoch aufgeladene Fragen auszuhalten. Ich wünsche mir die Fähigkeit, Argumente der anderen Seite aufzunehmen, auch wenn man sie nicht teilt. Es gibt ein Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten und auch nicht auf Hass und Hetze.

Möge der heutige Tag dazu dienen, dass wir den Opfern gedenken, dass wir im Inland und international für Demokratie und Menschenrechte einstehen und dass wir auch mit größerer Gelassenheit und mit etwas mehr Dankbarkeit über tagespolitische Fragen streiten können. Denn wir leben zum Glück in einer Demokratie, in der das möglich ist.

Foto: Maria Carmen